J. Rydel u.a. (Hrsg.): Instrumentalizing the Past

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Titel
Instrumentalizing the Past. The Impact of History on Contemporary International Conflicts


Herausgeber
Rydel, Jan; Troebst, Stefan
Erschienen
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 92,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ljiljana Radonić, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Die Frage, wie Vergangenheit für gegenwärtige politische Konflikte instrumentalisiert wird, könnte seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine aktueller kaum sein. Der von Jan Rydel und Stefan Troebst herausgegebene Band analysiert unterschiedlichste Fälle von Ge- und Missbrauch der Vergangenheit in der internationalen Politik und diskutiert mögliche Wege, solche Instrumentalisierungen zu vermeiden bzw. deren Auswirkungen zu bekämpfen. Der Konferenzband geht auf eine 2018 an der Pädagogischen Universität in Krakau von Historiker:innen und Politikwissenschaftler:innen aus Polen, Deutschland und den USA veranstaltete Tagung zurück. Die Mehrzahl der 20 Beiträge beschäftigt sich mit Zentral- und Osteuropa, der Band legt aber auch besonderes Augenmerk auf Beziehungen zu Israel, Deutungskämpfe zwischen Japan, der Volksrepublik China und Südkorea sowie Auswirkungen des ruandischen Genozids auf die internationalen Beziehungen des Landes. Da der Fokus meines eigenen Projektes ebenfalls auf genau diesen Regionen liegt, erscheint mir diese Erweiterung der Analysen in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg auf den ostasiatischen Raum und die Einbeziehung des Genozids von 1994 – wenig überraschend – einleuchtend.

In der Einleitung halten die Herausgeber fest, Osteuropa sei eine Region, in der Geschichte gegenwärtige internationale Konflikte stark beeinflusse. Das scheint intuitiv nachvollziehbar, etwa im Vergleich zu Skandinavien, wirft beim Lesen aber auch die Frage auf, wie denn diese starke oder schwache Rolle zu messen wäre. Und prompt beantworten die beiden Texte im ersten Abschnitt ebendiese Frage nach der Messbarkeit der Rolle von Geschichte als Instrument internationaler Konflikte. Bereits in der Einleitung diskutieren die Herausgeber das Problem, dass die meisten Theorien der Internationalen Politik (IP) die Rolle der Vergangenheit nicht einbeziehen – zum Teil mit dem Argument, dass diese nicht messbar sei. Die Beiträge von Zheng Wang und Łukasz Kamiński entwerfen Analyserahmen und Forschungskonzepte, um die Rolle von Geschichte und Gedächtnis zu messen. Obwohl von der Ausbildung her Politikwissenschaftlerin, so habe ich nie quantitativ gearbeitet und kann daher letzten Endes nicht beurteilen, ob damit das Problem hinlänglich gelöst ist. Die vorgeschlagenen Methoden scheinen mir jedoch wichtige Fragen aufzuwerfen und gangbare Wege für zukünftige Studien aufzuzeigen.

Eine weitere Frage, die in einem späteren Beitrag im Band beantwortet wird, ist die nach der Verwendung des Begriffs „Versöhnung“. Texte wie jener von Nina Janz oder von Bartosz Dziewanowski-Stefańczyk setzen offenbar als gegeben voraus, dass es in bilateralen Beziehungen um Versöhnung gehe. Emmanuelle Hébert weist hingegen in ihrer Analyse von Historikerkommissionen einerseits zahlreiche Verwendungen des Begriffs durch Politiker:innen und Kommissionsmitglieder nach, verweist andererseits aber auch auf Kritik an Versöhnung als Kitsch bzw. als religiös aufgeladenem Begriff. Angesichts dessen sei zu fragen, in welchen Fällen Versöhnung überhaupt von wem und warum zugestanden werden sollte. Weniger bekannt und daher interessant ist der von ihr analysierte Fall der 2002 gegründeten „Polnisch-Russischen Gruppe für schwierige Fragen“. Aus dieser Initiative sind Dialogzentren in Warschau und Moskau hervorgegangen, die unter anderem Segelkurse für Jugendliche aus beiden Ländern organisierten – auf Englisch.

Das Problem, wie die Ära von „fake news“ sich in Bezug auf Geschichte niederschlägt, wird in mehreren Beiträgen aufgegriffen. Es stellt sich in Japan, über das Łukasz Stach einen guten und umfassenden Überblick gibt, ebenso wie im post-sowjetischen Raum. Wie bei Konferenzbänden üblich, sind die Beiträge von unterschiedlicher Länge, Analysetiefe und Nähe zum titelgebenden Thema. Ein Highlight des Bandes in jeder dieser Hinsichten ist der Beitrag von Malkhaz Toria und Mykola Balaban, in dem es ebenfalls um die „Post-Wahrheits-Ära“ geht. Der theoretisch fundierte Text diskutiert zunächst die Frage, inwieweit die postmoderne Kritik des Wahrheitskonzeptes unbeabsichtigt zur Post-Wahrheits-Ära von Trump und Putin beigetragen hat. Der georgische und der ukrainische Wissenschaftler vergleichen dann die Reaktionen georgischer und ukrainischer Historiker:innen auf Putins geschichtsfälschende Reden über Georgien (2019) und die Ukraine (2014). Die georgischen Mainstream-Historiker:innen hätten sich auf die Widerlegung von Putins Geschichtslügen im Einzelnen eingelassen, was „progressive“ georgische Historiker:innen, die die Autoren interviewt haben, ebenso kritisch sehen wie die Autoren selbst. Ukrainische Historiker:innen hätten Putins Instrumentalisierung von Geschichte hingegen viel stärker auf der Metaebene analysiert.

Einige der Beiträge beleuchten bilaterale, durch die Vergangenheit stark beeinflusste Beziehungen im historischen Wandel, inklusive einiger Kehrtwenden aus ökonomischen oder politisch-strategischen Gründen. Angerissen wird das im kurzen Beitrag von Khatuna Chapichadze über die Verbesserung der georgisch-türkischen Beziehungen. Budi Agustono und Farida R. Wargadalem zeigen, wie sich das Verhältnis zwischen Japan und Ost- und Südsumatra vom Konflikt über Geschichte zu ökonomischer Kooperation entwickelte. Joanna Bar untersucht, wie sich Ruanda aufgrund der höchst problematischen Rolle Frankreichs während des Genozids stärker Großbritannien und den USA zuwandte. Maria Kostromitskaya beleuchtet kritisch die Aufarbeitung sowjetischer Verbrechen in Polen und Russland. Maya Hadar erinnert in ihrem Beitrag über die iranisch-israelischen Beziehungen an die heute weithin vergessene gute Zusammenarbeit beider Länder ab den 1950er-Jahren bis zur „Islamischen Revolution“ 1979. Der Iran war das zweite muslimische Land, das Israel anerkannt hat. In den 1950er-Jahren kamen, so Hadar, so viele israelische Militärexpert:innen und Technikberater:innen in den Iran, dass in Teheran eine israelische Schule eröffnet wurde. Israel lieferte nicht nur Orangen in den Iran, sondern auch Waffen in großem Ausmaß. Gerade angesichts der Bedrohung, die das islamistische Regime heute für Israel darstellt, betont Hadar den Respekt vieler Israelis für die iranische Bevölkerung, die in Protesten bis heute immer wieder ihr Leben riskiert. Das Herausarbeiten solcher Brüche und Transformationen macht deutlich, dass der Status quo bilateraler Beziehungen keinesfalls ahistorisch betrachtet werden darf.

Während einige Beiträge in dem Band bilaterale Beziehungen beleuchten, untersucht Stefan Troebst das Konfliktdreieck zwischen dem heutigen Nordmazedonien, Griechenland und Bulgarien. Er zeichnet nicht nur die Entwicklung der Konflikte um Geschichte und Namensgebung nach, sondern kommt am Schluss auch auf handfeste Folgen zu sprechen: etwa den Mangel an Grenzübergängen und zumutbaren Zugverbindungen. Sein Beitrag, der im Buchabschnitt über Methoden zur Überwindung historischer Konflikte angesiedelt ist, schließt mit einem Postskriptum: Wenn Historiker:innen in der Position wären, Politiker:innen in Sofia, Skopje und Athen eine Empfehlung zu geben, müsste diese ebenso unverblümt wie naiv sein: „Leave history to us and mind your own business!“ (S. 255)

Als letzter Punkt sei noch gesagt, dass dieser Band auch als Bemühung begriffen werden kann, den Dialog fortzuführen – in schwierigen Zeiten der Instrumentalisierung von Vergangenheit, auch seitens von Wissenschaftler:innen. Welche Herausforderungen dies in Bezug auf kritische Distanz zum Untersuchungsgegenstand mit sich bringt, machen auch einige der Beiträge in dem Band selbst deutlich. So diagnostizieren Jan Rydel und Przemysław Łukasik, die die geschichtspolitischen Konflikte Polens mit seinen Nachbarländern analysieren, der Begriff „polnische Todeslager“ sei „used with amazing regularity and undoubtedly overused by the German and foreign media“ (S. 45). Während die deutsche Regierung und deutsche Historiker:innen offiziell keinen Zweifel daran ließen, dass es sich um Nazi-deutsche Todeslager gehandelt habe, werde zugleich der Begriff „Deutschland“ oder „deutsch“ fast vollständig durch den Begriff „Nazi“ ersetzt. Die folgende Behauptung spricht für sich: „These tendencies indicate – according to many Polish experts – Germany’s delicate intention of exonerating their country from the crimes of the Second World War and instead distributing this responsibility among other nations through semantic methods, rather than by outright falsification of historical facts.“ (S. 45)

Aus polnischer Perspektive beleuchtet auch Przemysław Furgacz den „unglücklichen Disput“ zwischen Polen und Israel über den 2018 verabschiedeten Zusatz zum polnischen Gesetz über das Institut für Nationales Gedenken, der die Beschuldigung der polnischen Nation oder des polnischen Staates für Nazi-Verbrechen unter Strafe stellen sollte. Dem Autor zufolge sei das umstrittene Gesetz vermutlich („most probably“) nur erlassen worden, um den Begriff „polnische Todeslager“ zu bekämpfen (S. 271). Also sucht er nach Gründen, warum es zu so einer „unerwarteten“ Aufregung gekommen sei und warum die israelische Regierung angeblich „essentially initiated a negative public relations campaign against this law and the Polish government in the Western World“ (S. 260). Die mögliche Antwort auf die schief gestellte Frage: „According to some explanations, Russian secret service could have ignited or at least stroked up the disputes.“ (S. 268) Zugegeben gäbe es dafür zwar keine starken Beweise, aber es sei nicht klug, eine solche Hypothese a priori zu verwerfen. Israelische Journalist:innen, die die Unverhältnismäßigkeit israelischer Reaktionen nicht sehen würden, bezeichnet er als „emotional, aggressiv und bitter“ (S. 260).

In solchen Passagen wird offensichtlich: Im Dialog über die Instrumentalisierung der Vergangenheit zu bleiben, erfordert Kompromisse.

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